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Die Lügen der Wohlfahrtsverbände

Die Lügen der Wohlfahrtsverbände published on

Text: Raul Krauthausen (ein Kommentar)
Wer erst “Barrieren in den Köpfen” beseitigen will, betreibt die gleiche Augenwischerei wie Weiße, die nichts gegen ihren Rassismus tun wollen.

Ich kann diese Plakate nicht mehr sehen. Sie lächeln mich auf der Straße an, von Litfaßsäulen herab grüßen Gesichter glückliche Erwachsene und noch glücklichere Kinder. Aufklärung soll das sein.

Fast alle Wohlfahrtsverbände in Deutschland argumentieren, man müsse sensibilisieren, für die Belange der Menschen mit Behinderung. Verständnis für sie wecken.

Letztendlich wollen sie darüber aufklären, dass Menschen mit Behinderung auch Menschen sind. Für diese Binse investieren sie Millionen von Euro in Werbekampagnen, und dann sind Deutschlands Straßen voll mit lächelnden Gesichtern – eindimensional auf Papier und damit in Parallelgesellschaften wie den isolierten Werkstätten und Wohnheimen eingerahmt, während nicht wenige Gebäude in der dreidimensionalen Welt dieser Straßen kaum barrierefrei sind, was eines der Probleme ist, um die wir uns zuallererst kümmern sollten.

Es ist zum Mäusemelken
„All diese Kampagnen und das Gerede über Inklusion verschieben ein wichtiges Problem auf den Sankt-Nimmerleinstag: elementare Rechte von Menschen mit Behinderung werden ignoriert.“

Müssen wir etwa Männer dafür sensibilisieren, dass Frauen auch Menschen sind? Oder dass Nichtdeutsche auch Menschen sind? Hat sich ein einziger Nazi durch das Anschauen eines Plakats gedacht: „Stimmt, Ausländer sollte ich eigentlich nicht jagen …“?

Let’s meet
Was einen Rassisten vielleicht bekehrt, ist die Begegnung. Das schafft eine Chance. Wenn also Wohlfahrtsverbände lamentieren, man müsse erst einmal “die Barrieren in den Köpfen” der Gesellschaft abbauen, dann irren sie.

Erst einmal müssen die Schulen barrierefrei gemacht werden, die Straßen und die Verkehrsmittel – damit wir uns überhaupt begegnen können. Nur dann können wir uns um die Barrieren in den Köpfen kümmern.

Wohlfahrtsverbände aber lamentieren über den zweiten Schritt, um den ersten nicht machen zu müssen. Sie irren absichtlich – und damit lügen sie. Denn so bleibt alles, wie es war. Und das bedeutet: Keine Überlegenen ohne Unterlegene.

Der Forschungsbereich Critical Whiteness beschäftigt sich mit dem Weißsein als Norm, welche Privilegien mit sich bringt. Die Mehrheit schafft dadurch strukturierte Ungleichgewichte und eine Überlegenheitsposition von Weißen, über die sie wenig nachdenken. Wer nicht zu den Weißen gehört, muss sich dann stets mit dem Rassismus auseinandersetzen, ob er will oder nicht. Denn der ist da.

Letztlich werden People of Color in den Köpfen als fremd eingestuft. Damit schafft das Weißsein einen unsichtbaren Maßstab für das Leben in Deutschland. Und es werden haufenweise Klischees geschaffen, bewusste und unbewusste (Stichwort: „Stuttgarter Randale“), die gefährlicher sind als die offene Anfeindung eines „Ausländer raus“ brüllenden Nazis, weil man Journalisten oder Oberbürgermeistern eher glaubt. 

Diese Normen des Weißseins lassen sich auch nicht erfolgreich ausblenden, denn Aussagen wie “Ich sehe keine Hautfarben” oder “Für mich sind alle Menschen gleich” verwischen die Diffamierungserfahrungen, die Menschen machen und münden in Ignoranz. Daher hören wir nun allerorten, dass Weiße hinhören sollen, sich zurücknehmen sollen, Begegnungen zulassen sollen.

Ein Problem
Weiße leben in einer Gesellschaft, in der sie sich wohl fühlen können, denn sie sind stets repräsentiert, da drängt sich die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit Rassismus nicht durch die Vordertür auf. Weist man sie dann auf rassistisches Verhalten hin, reagieren sie zuweilen pikiert bis ablehnend. Will man ja nicht hören.

Übrigens sehen Weiße sich natürlich als Individuen, während People of Color von ihnen als Mitglieder einer Gruppe wahrgenommen werden. Linke und Liberale schließlich sollten nicht so tun, als könnten sie nicht rassistisch sein – das macht sie nur weniger offen und verschärft das Problem.

Auf und zu einer Schublade
Was dieser Exkurs soll? Ich werde ihn nun in die Lebenserfahrungen übersetzen, die Menschen mit Behinderung machen.

Norm in Deutschland ist, dass man nicht behindert ist. Menschen ohne Behinderung schaffen ein strukturiertes Ungleichgewicht, in dem Menschen mit Behinderung als anders wahrgenommen werden. Menschen mit Behinderung müssen bangen und kämpfen, damit sie eine Schulbildung und eine Chance auf dem Arbeitsmarkt wie die „Anderen“ erhalten.

Sie müssen sich jeden Tag mit Diskriminierung auseinandersetzen: Wenn sie zum Beispiel irgendwo nicht weiterkommen, wenn man sie bevormundet oder über sie hinweg sieht. Immerhin blicken Menschen mit Behinderung auf eine lange Geschichte der Aussonderung zurück. Sie wurden früher weggesperrt und in der Nazizeit gar massenhaft ermordet, und heute leben und arbeiten sie oft isoliert in Sondereinrichtungen.

Dieser unsichtbare Maßstab hat Folgen. Denn wenn eine Behinderung als eine Abweichung wahrgenommen wird, setzt sich das medizinische Modell von Behinderung durch: Dann ist Behinderung ein Mangel, eine Krankheit. Dies aber stimmt meist nicht mit den eigenen Realitäten der Menschen überein, die mit ihrer Behinderung leben und sie als Teil ihrer Identität kennen.

Und auch wir haben unsere Journalist*innen und Oberbürgermeister*innen, die zu einer verfahrenen Situation beitragen: Werkstätten für behinderte Menschen genießen einen guten Ruf, obwohl sie in Wirklichkeit unterfordernde Sondereinrichtungen sind. Endlos sind die Tiraden in der Mehrheitsgesellschaft, die davon labert, wie „gut eingebunden“ man durch die Werkstatt in die Arbeitswelt sei.

Es ist auch falsch,  von einer „Farbblindheit“ zu sprechen und alles zu verwischen, weil ja jeder irgendwie eine Behinderung habe – denn so wird auf Diffamierungserfahrungen ein Deckel gestülpt, ein Diskurs unterbunden.

Vor allem Menschen, denen eine Behinderung fehlt, sind die, die über Menschen mit einer solchen reden. Sie beurteilen und legen fest. Daher gibt es nun den Appell, dass sie sich zurücknehmen sollten, zuhören sollten: Nichts über uns, ohne uns! Das geschieht nicht folgenlos.

Wer einen Menschen ohne Behinderung auf sein Fehlverhalten hinweist, etwa auf Bevormundung oder ungefragtes Berühren, hört zuweilen pikiert: „Ich wollte doch nur helfen“ – und man ist in der Ecke des undankbaren, griesgrämigen Krüppels. Von Linken und Liberalen können wir auch manches Lied singen. Da gibt es die Helikopter-Eltern, die stets alles besser wissen, oder Leute in Berufen, die mit behinderten Menschen arbeiten und sie als Objekte sehen, für die sie entscheiden. Das trifft natürlich nicht auf alle zu, aber auf einen Teil. Und der bildet sich zu einer Struktur aus.

Um all diesen Mist abzubauen, brauchen wir Begegnung und Protest um die Teilhabe behinderter Menschen zu ermöglichen. Aber bitte klebt keine weiteren Plakate!

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