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Groll: Herr Braun und die zweite Welle

Groll: Herr Braun und die zweite Welle published on

Text: Erwin Riess
Herr Groll traf den Dozenten auf dem Julius Tandlerplatz im neunten Wiener Gemeindebezirk. Der Dozent hatte den Wunsch, das Café Brioni kennenzulernen, in dem Heimito von Doderer verkehrt hatte. Er würde gern dem Genius loci nachspüren. 

Er müsse ihn enttäuschen, erwiderte Groll. Das Café existiere nicht mehr. In seinen Räumlichkeiten befinde sich jetzt ein Wettlokal des Novomatic-Konzerns. Im Übrigen sei Doderer schon 1933 der illegalen NSDAP beigetreten, man möge ihn mit diesem Nazi-Parteigänger in Ruhe lassen. 

Sie suchten eine ruhige Bank vor dem Franz-Josephs Bahnhof auf und nahmen in gehörigem Abstand von einander Platz. 

„Wussten Sie, dass das Brioni 1913 eröffnet wurde?“, sagte Groll. „Im selben Jahr kam Siegfried Braun aus Olmütz neunzehnjährig nach Wien. Der Pionier der österreichischen Behindertenbewegung stammte aus Olmütz/Olomouc in Mähren. 

Infolge seiner Behinderung musste er in einem „Siechenhaus“ Logis nehmen. Nach dem Krieg organisierte er einen Unterstützungsverein für behinderte Menschen, schuf für seine Kolleg_innen mehrere Werkstätten, eröffnete in einem ebenerdigen Lokal im Prater ein Beratungsbüro und gab bis 1929 die Zeitschrift „Der Krüppel“ heraus. 

Eine anfängliche Nähe zur Sozialdemokratie wich zunehmender Distanz. Die Haltung führender Sozialdemokraten des Roten Wien, vor allem des legendären Gesundheits- und Fürsorgestadtrats Julius Tandler, stand der Selbstbestimmung behinderter Menschen diametral entgegen. Es gibt von Tandler hässliche Aussagen, die im Hauptstrom eugenischer Politik in Westeuropa und den USA lagen. 

Für behinderte Menschen war in diesem Weltbild kein Platz. Sie liefen Gefahr, einer vorgeblich modernen Vernunft und einem verbesserten ,Volkskörper‘ geopfert zu werden. Wohin diese Auffassung schließlich führte, wissen wir. Und so erging es auch dem Pionier der österreichischen Behindertenbewegung. Nach dem Einmarsch der Nazis wurde er nach Theresienstadt gebracht und von dort nach Auschwitz, wo er vergast wurde. Dass ihm und seiner Mitstreiterinnen über all die Jahrzehnte nicht einmal von den antifaschistischen Organisationen und den Behindertenverbänden der Zweiten Republik gedacht wurde, zeigt nur ein weiteres Mal, wie tief die Zweite Republik bis herauf in die 1990er Jahre mit beiden Beinen im braunen Sumpf steckte.“ 

Der Dozent nahm eine Eintragung in seinem Notizbuch vor. Groll fuhr fort: „Es waren aber nicht nur deutsche, niederländische, belgische, französische und englische Eugeniker, die selbständige Lebensformen behinderter Menschen bekämpften, sondern auch Schweden, das Mutterland des ,Volksheim-Sozialismus‘, also des modernen Sozialstaats, praktizierte eine für behinderte Menschen fatale Politik. Der Vorsitzende der schwedischen Sozialdemokraten, Hjalmar Branting, war ein ebenso entschiedener Vertreter der behindertenfeindlichen Politik wie seine kontinentaleuropäischen und englischen Kollegen. 

Aber auch in der Sowjetunion hatten behinderte Menschen keine Zuflucht. Bekannt ist die Tragödie von Nasino, wo im eisigen Frühling des Jahres 1933 am sibirischen Ob neben angeblich kriminellen und parteifeindlichen Menschen auch behinderte Menschen auf einer Insel inmitten des großen Stroms ausgesetzt wurden, worauf sie zu Tausenden verhungerten oder Opfer von Kannibalismus wurden.“ 

Nachdem der Dozent eine Eintragung in seinem Notizbuch vorgenommen hatte, sagte er: „Es ist erschreckend, dass die eugenische Haltung während der gegenwärtigen Pandemie wiederauflebt, und das gerade wieder in Schweden. Ältere Menschen – unter ihnen viele Behinderte – werden zum Abschuss freigegeben. Schweden hat pro Kopf der Bevölkerung neunmal so viel Tote wie Finnland, das früh strenge Maßnahmen ergriff und sechsmal so viel wie Österreich. In England und den USA ist die Lage ähnlich, von Italien und Spanien ganz zu schweigen. Aber auch in Deutschland und Österreich melden sich die Eugeniker zu Wort, denken Sie an den grünen Bürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, an die Identitären und Martin Sellner, die in Wien Demonstrationen gegen die Schutzmaßnahmen organisieren und an Herrn Kickl von der FPÖ, ja sogar der Gesundheitsökonom Pichlbauer bekämpft die Schutzmaßnahmen der Regierung.“ 

„Ein feiner Herr, fragt sich nur, wessen Anwalt er ist“, sagte Groll. „Die zweite Welle ist längst unter uns. Sie ist behinderten- und altenfeindlich und breitet sich rasch aus. Das Virus und die Eugenik sind kommunizierende Gefäße. Jetzt, da die Welle der Kosten-Nutzen-Rechnung für menschliches Leben über Europa schwappt, möchte ich nicht in meiner Haut stecken.“ 

Ein Lastkraftwagen der Müllabfuhr näherte sich rasch. Herr Groll und der Dozent flüchteten zum Donaukanal. 

Erschienen in der Zeitschrift „Stimme“ in der Spezialausgabe #115 – „100 Jahre Behindertenbewegung

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