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Die Ökonomisierungs-Falle im Gesundheitsbereich

Die Ökonomisierungs-Falle im Gesundheitsbereich published on

Text: Pepo Meia, Isabella Krapf, Niels Cimpa
Die Zusammenlegung der Krankenkassen soll in fünf Jahren eine Milliarde Euro im Verwaltungsbereich einsparen – zum Vorteil der Patienten?

In der Wiener Zeitung wurde am 18. Mai 2018 ein interessanter Artikel von Gerald Michael Radner, Referent für Arzthaftung der Wiener Ärztekammer veröffentlicht. Wir haben diesen Artikel als Grundlage genommen um diese Problematik auch aus Sicht der Patienten wiederzugeben.

Vertrauensverhältnis Arzt – Patient
Seit jeher steht die Arzt-Patienten-Beziehung unter einem besonderen Schutz vor Einflüssen Dritter und von außen. Eine vertrauensvolle und enge Arzt-Patienten-Beziehung ist auch die beste Voraussetzung für eine Therapie. Sie soll vor allem im Interesse der Patienten die beste Behandlung sicher stellen.
Doch die Erbringung ärztlicher Leistungen, deren Quelle Wissen, Erfahrung und die intensive Befassung mit Persönlichkeit und Befindlichkeit eines Patienten sind, erfordert ein Maximum an Freiheit, Flexibilität und ein hohes Maß an Vertrauen in die Ärzteschaft.

Klaus Brückner (Rehatechnik): Dieses Vertrauensverhältnis baut sich erst über Jahre und viele Gespräche auf und bei vielen Diagnosen fließt es wieder ein, da man die Vorgeschichte und die Entwicklung des Menschen und seiner med. Probleme kennt. Vor allem beim viel gepriesenen Hausarzt (meines Vertrauens) wie bei langen Verläufen z.B. chronischen Erkrankungen und deren Begleiterscheinungen, ist eine Diagnose ohne Vorwissen immer mangelhaft. Die Komplexität der Erkrankungen resultiert sehr oft aus dem Vorleben: Kein Infarkt oder Schlaganfall kommt aus dem Nichts, wie auch Übergewicht sich durch die Lebensführung aufbaut – und da sind wir noch bei einfach erkennbare Zusammenhängen ohne Infektionen aus tropischen Urlauben und dergleichen. Denn jeder im Alter 50+ hat auch eine ebenso lange medizinische Geschichte (Rauchen, Alkohol, Sportverletzungen – auch wenn das schon lange zurückliegt).

Anm.: Problematisch wird es, wenn der langjährige Vertrauensarzt in Pension geht, stirbt oder auch nur den Arbeitsplatz wechselt. Einsparungen im Fachpersonal (Stationsärzte, Dipl. Schwestern etc.) erhöhen nicht das Vertrauen in die Krankenanstalten. Außerdem sind die vielen Negativbeispiele in den Medien nicht förderlich für das Vertrauensverhältnis zu den Ärzten.
ELGA (ELektronische GesundheitsAkte) ist nach wie vor sowohl bei den Patienten wie auch bei der Ärzteschaft umstritten, da auch die Datensicherheit nicht gewährleistet werden kann.
Die geplante Weitergabe von persönlichen Gesundheitsdaten an forschende Unternehmen ist ebenfalls mehr als fragwürdig.

Die Erwartungshaltungen an den Arzt sind so groß wie vielschichtig:
Der Patient will möglichst rasch ohne Unannehmlichkeit vollkommen gesund werden und erwartet, dass der Arzt alles weiß, alles kennt, alles kann und sich auch ausreichend für ihn Zeit nimmt.

Die Gesundheitspolitik erwartet, dass der Arzt dies alles in kürzester Zeit mit geringsten Mitteln, vielleicht sogar kostenfrei bewältigt.

Der Jurist und die Gerichte erwarten, dass sich der Arzt für jeden einzelnen Patienten viel Zeit nimmt, um ihn über den Krankheitszustand so aufzuklären, dass sich der Patient wie nach einem Medizinstudium auskennt. Selbstverständlich wird vorausgesetzt, dass der Arzt dabei alle Facetten des Rechts beachtet.

Die Medizinproduktindustrie erwartet, dass der Arzt alle technischen Errungenschaften beherrscht, diese anschafft beziehungsweise verordnet und immer auf dem neuesten Stand der medizinischen und technischen Errungenschaft steht.

Die Krankenversicherungsträger erwarten, dass der Arzt den Patienten möglichst effektiv in der Versorgung durch das sich immer mehr verkomplizierende System führt.

Ein Mediziner hat die beste Therapie zu verordnen – und die Krankenkassen haben die Kosten dafür zu übernehmen.

Die österreichische Rechtsordnung verpflichtet jeden Arzt jeden Patienten nach dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaften zu behandeln. Die soziale Krankenversicherung ist verpflichtet, diese Behandlungskosten zu übernehmen, damit nach Möglichkeit die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen, wiederherstellt, gebessert oder gefestigt werden. Nach Möglichkeit bedeutet: Mit allem, was möglich ist, also mit der besten Medizin.

Dieses Zusammenspiel zeichnet Österreichs Gesundheitssystem als das Weltbeste aus. Die Erfahrung hat aber auch gezeigt, dass die beste Medizin auch auf lange Sicht die kostengünstigste ist. Die Therapiefreiheit ist die Grundlage für das ärztliche Behandeln.

Ökonomische, politische und gesellschaftliche Interessen
Zweifellos bewegt sich diese Maxime im Spannungsfeld aktueller ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Interessen. Strebt doch gerade die permanente Finanzierungskrise öffentlicher Haushalte und damit auch des sozialen Gesundheitssystems nahezu reflexhaft nach Regelmechanismen, um die Ärzte ökonomisch zu domestizieren. Damit werden die Probleme jedoch nicht gelöst, sondern verschärft.
Wenn Außenstehende aus ökonomischen Gründen in dieses Arzt-Patienten-Verhältnis Einfluss nehmen wollen, so ist dies oftmals eine „Arroganz von Gesunden“, die sich spätestens dann, wenn sie selbst oder nahe Angehörige ärztliche Hilfe benötigen, ins Gegenteil verkehrt.
Der Arzt ist in einer wahren Ökonomisierungsfalle gefangen.

Der Arzt haftet für die Behandlung des Patienten
Der Arzt kann sich nicht dadurch exkulpieren, dass er veranlasst wurde, nicht die aussichtsreichste, sondern eine kostengünstige Therapie zu verordnen. Die Verantwortung und Haftung liegt ganz alleine bei ihm, und daher braucht er auch für seine Entscheidungen die Therapiefreiheit.

Anm.: Viele Ärzte haben gar keinen Kassenvertrag mehr (Wahlärzte) – bzw. nur spezielle Krankenversicherungen (Beamte, Bauern, Eisenbahner etc.).
In welche Richtung geht unser Gesundheitssystem? Richtung US-amerikanischen Privatversicherungen? Oder überfüllten Kassenambulatorien bzw. Arztpraxen, wo die Wartezeit wesentlich länger dauert als das Arztgespräch bzw. die Behandlung?
Esoterik und sogenannte „Kurpfuscher“ und selbsternannte Schmerz und Heiltherapeuten haben wieder Hochsaison, da die Betroffenen Hilfe suchen und geheilt werden möchten.

Wirtschaftlichkeit:
Die Sozialversicherungsträger haben sich ein Wirtschaftlichkeitsgebot auferlegt.
Geld soll nur für das Notwendigste ausgegeben werden. Die Leistungen sollen: Ausreichend, wirtschaftlich und zweckmäßig sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
Leistungen, die dagegen verstoßen, werden weder erbracht noch bewilligt = kein Rechtsanspruch der Versicherten!

Die Leistungen sollen also das Notwendigste nicht überschreiten. Dieser „Gummi-Paragraph“ wird meistens zum Nachteil der Patienten bei Klagen beim Arbeits- und Sozialgericht ausgelegt. Ein gutes Beispiel dafür: Betteinlagen, die vom Heilbehelf zum Pflegeartikel umdeklariert wurden. Dies bedeutet, dass die Pflegedienste bzw. die Patienten statt der Krankenkasse diese bezahlen müssen – ohne Pflegedienst, keine Betteinlagen.
Diese Beträge sind jedoch „Kleinigkeiten“, wenn man sie mit Heilbehelfen im Inkontinenzbereich vergleicht. Die Kosten sind meist privat gar nicht mehr finanzierbar.

Rechtliche Stellung: Reduktion der Mittel bei Freizeitunfällen
Arbeitsunfälle (AUVA) sind rechtlich besser gestellt als Freizeitunfälle. Dies betrifft sowohl Reha-Maßnahmen, sowie auch Sachleistungen für Heil- und Pflegeartikel.
Bei Freizeitunfällen werden finanzielle Obergrenzen festgelegt, wodurch Betroffene z.B. bei Querschnittslähmungen bzw. auch bei Inkontinenz schlechter gestellt sind. Viele medizinische Produkte werden immer besser, aber auch oft teurer, ohne dass die finanziellen Obergrenzen der Kostenträger angepasst werden. Dies führt zu einer Reduktion der Heilbehelfe für die Betroffenen, was wiederum zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes führt.
Auch die jeweiligen Bundesländer sind Kostenträger für Heilbehelfe, Pflegeartikel etc. Da jedoch die Obergrenzen der Leistungen vom jeweiligen Bundesland abhängen (die auch oft nicht entsprechend angepasst werden), wird es für die Betroffenen immer schwerer die nötigen – in diesem Falle Sachleistungen – zu erhalten, da diese nicht mehr bezahlt werden.

Obergrenzen und Unterstützungsfonds
Die Krankenkassen, aber auch die Länder setzen Obergrenzen, wobei dann die Betroffenen zu den jeweiligen „Unterstützungsfonds“ verwiesen werden. Auch die Pensionsversicherungen haben sogenannte Unterstützungsfonds. Dann wird man zum „Bittsteller“ und ist auf das Wohlwollen der jeweiligen Fonds angewiesen – kein rechtlicher Anspruch.
Dass diese zusätzliche Belastung für die Genesung bzw. Erhalt des Gesundheitszustandes der Betroffenen sicherlich nicht förderlich ist, ist wohl leicht nachvollziehbar.
Das Einzelschicksal wird für die Masse immer unwichtiger, wenn es sie nicht selbst betrifft.
Das Feindbild Asylwerber sorgt noch zusätzlich für Neid und lenkt von den Systemschwächen ab. Immer wieder hört man Stimmen aus der Bevölkerung: „Die Ausländer bekommen alles (Sozialleistungen) – und wir (die Österreicher) bleiben da auf der Strecke – Dabei haben wir doch selbst genug Kranke und Pflegefälle, Arbeits- und Obdachlose!“ die in unserem Sozialsystem auf der Strecke bleiben…“
Wenn Betroffene dann die Hilfe aus einem Unterstützungsfonds beantragen, dann werden diese als mittellos „abgestempelt“. Bei Ablehnung bleibt nur mehr der Rechtsweg und im Falle einer Klage wird die Erfolgsaussicht minimiert. Anwälte spezialisieren sich in der Regel auf Wirtschaftsrecht und nicht auf Sozialrecht, da dort weniger zu lukrieren ist. Der ökonomische Nutzen wird vor die Gesundheit des Patienten gestellt.

Natürlich ist es medial einfacher in unserer „Wohlstandsgesellschaft“ Spenden zu lukrieren (siehe die ORF-Aktion „Licht ins Dunkel“ bzw. „Krebshilfe“ etc.) – als die nötigen staatlichen Mittel im Sozial- und Gesundheitsbereich zur Verfügung zu stellen, welche eigentlich selbstverständlich wären – da doch jeder Mensch vor dem Gesetz gleichgestellt sein sollte.

Die Armutsschere klafft immer weiter auseinander. Während 10% der Bevölkerung in Österreich 2/3 des Vermögens besitzen und oft kaum Steuern zahlen, werden viele Betroffene für jede Kleinigkeit zur Kasse gebeten.
Hier müsste der Staat viel mehr regulierend eingreifen, um den sozialen Frieden, aber auch die Sicherheit im Land zu erhalten.
Österreich zählt noch immer zu den reichsten und sichersten Länder weltweit – wie lange noch?

Artikel zum Thema: Die Krankenkasse bittet die Betroffenen zur Kasse (BIZEPS 2010)

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