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Geliehene Arme und Beine

Geliehene Arme und Beine published on

Text: Jana Reininger
Rund 2.000 Menschen in Österreich nehmen aufgrund einer Behinderung persönliche Assistenz in Anspruch. Während der Bund beruflich notwendige Assistenz finanziert, ist sie im Privaten nur unter prekären Konditionen möglich. Das macht allen Beteiligten das Leben schwer.

Wenn Gabriela Obermeir morgens aufwacht, bleibt sie erstmal liegen. Dann blickt sie auf die gelb gestrichene Decke über sich, auf die Uhr zu ihrer linken Seite oder zu den Bildern, die am anderen Ende des Raumes hängen. An manchen Tagen vergeht die Zeit schnell. An anderen denkt sie sich Wortketten aus, um die Zeit zu vertreiben. Gabriela Obermeir wäre bettlägerig – würde sie nicht Tag für Tag von ihren Persönlichen Assistenten unterstützt.

Als sie sich vergangenes Jahr selbst aus dem Bett in den Rollstuhl hieven wollte, brach sie sich das Bein. Der Sturz auf den Parkettboden war in Kombination mit ihrer Autoimmunerkrankung fatal. Knapp ein Jahr verbrachte sie anschließend im Krankenhaus. Weil auf das eine das andere folgte, Behandlungen weitere Behandlungen nach sich zogen und sich ihre Entlassung immer weiter verzögerte. Seitdem bleibt sie morgens lieber liegen und wartet auf den Dienstbeginn ihres Assistenten. Gabriela Obermeir ist seit 2011 Persönliche Assistenznehmerin – › die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können ‹, wie sie sagt. Das bedeutet, dass sie Arbeitgeberin für fünf Menschen ist, die in wechselnden Diensten all die Dinge tun, die sie selbst wegen ihrer krankheitsbedingten Bewegungseinschränkungen nicht mehr tun kann. › Eine Art Verlängerung der Arme und Beine ‹, wie ihr Assistent In-Ja Ackermann hinzufügt.

Solcherart › verlängerte Arme und Beine ‹ haben in Österreich 2.000 Menschen, so eine Schätzung der Organisation BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben in Wien. In der österreichischen Hauptstadt sollen laut BIZEPS rund 400 Menschen Persönliche Assistenz in Anspruch nehmen, auch in Tirol besteht ein hohes Unterstützungsausmaß. In anderen Bundesländern sind die Zahlen weitaus geringer. Genau lässt sich das allerdings nicht sagen, denn je nach Assistenzform sind unterschied­liche Instanzen für die Verwaltung zuständig.

Persönliche Assistenz ist ein Modell, das Menschen mit körperlichen Behinderungen eine höhere Lebensqualität ermöglicht – im Sinne des selbstbestimmten Lebens. Dadurch unterscheidet es sich von der Pflege. Allerdings funktioniert das Modell nur mit finanzieller Unterstützung, die in vielen Fällen nicht ausreicht. Persönliche Assistenten im Berufsalltag sind bei den jeweiligen Assistenznehmern angestellt – und damit sozial abgesichert, weil der Bund dafür die vollen Kosten übernimmt. Für die genauso notwendige Assistenz im Privatleben hingegen gelten in jedem Bundesland andere Konditionen. In Wien sind Assistenten freie Dienstnehmer, die von der Stadt gefördert werden. In Summe bleiben für die Assistenten stündlich oft nicht mehr als elf Euro netto übrig. Weil nicht nur der Stundensatz, sondern auch die Berechnung des alltäglichen Stundenbedarfs und somit die gesamte Fördersumme oft gering ausfällt, entsteht für Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, ein problematischer Alltag. Sie geraten in finanzielle Schwierigkeiten, in riskante Situationen oder rutschen in die Isolation. Dabei liegen seitens des Arbeits- und Sozialgerichts längst Urteile darüber vor, dass Persönliche Assistenten aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht über ein Anstellungsverhältnis verfügen sollten : Weil sie weisungsgebunden und nach Dienstplan arbeiten und dabei keineswegs über Freiheiten verfügen, die im freien Dienstvertrag üblich sind. 

› Wenn niemand da ist, ist das für mich lebensgefährlich ‹, erzählt Thomas Stix. Er sitzt in der Mitte des großen, beinahe leer wirkenden Raumes seines Büros. Durch das geöffnete Fenster sind vergnügte Schreie vom nahegelegenen Spielplatz zu hören. › Mir muss nur die Hand von der Armlehne rutschen und ich erreiche im Notfall nicht mal mehr das Handy ‹, fährt er fort. 

› Wenn ich beim Atmen Unterstützung brauche, wenn ich mich verschlucke und nicht selber aushusten kann, dann wird es existenziell lebensbedrohlich ‹, erklärt auch Dorothea Brożek. Aber auch in weniger drastischen Situationen ist das Einsparen von Stunden wegen zu geringer Fördersummen unangenehm. Und entwürdigend, wie die Assistenznehmerin hinzufügt. › Wenn ich Unterstützung brauche, um auf die Toilette zu gehen. Wenn sich ein Insekt auf mich setzt und mich sticht. Das klingt banal, aber in der Praxis sind das Scheißsituationen. ‹ Dorothea Brożeks Stimme bebt.

Der komplette Artikel: Geliehene Arme und Beine (Magazin DATUM.at / Ausgabe November 2020)

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